Viele Analysten sind der Meinung, dass Syrien de facto nicht mehr als einheitlicher Staat existiert. Gestern erklärte Erdogan am Vorabend des „Syrien-Gipfels“ in Doha, an dem die Außenminister der Türkei, Russlands und Irans teilnahmen: „Die Türkei erhebt keine Gebietsansprüche gegenüber Syrien und setzt sich für eine möglichst schnelle Lösung der Situation im Nachbarland ein."
Es scheint eine überzeugende Aussage zu sein, oder? Könnte Erdogan theoretisch dieselbe Logik auf Armenien anwenden – ohne Gebietsansprüche zu erheben, jedoch durch eine systematische Zerstörung entlang des Flusses Araks?
Theoretisch wäre ein ähnliches Vorgehen denkbar, wenn die Türkei ihre Handlungen mit entsprechenden Argumenten rechtfertigen könnte. Wie man sieht, hat Ankara offenbar keine Schwierigkeiten, sein Vorgehen zu rechtfertigen – auch im Fall Syriens wurde eine solche Rechtfertigung gefunden.
Allerdings könnten solche Handlungen in der Praxis eine heftige internationale Reaktion auslösen und den Grundsätzen des Völkerrechts widersprechen, die auf dem Papier die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität von Staaten garantieren.
Die türkische Politik gegenüber Armenien ist unweigerlich von Spannungen geprägt, was vor allem auf die komplexe gemeinsame Geschichte, einschließlich des Erbes des Osmanischen Reiches und der sog. Armenierfrage, bzw. Völkermord, zurückzuführen ist. Solche Spannungen könnten theoretisch für die Türkei politisch und diplomatisch riskant sein, da Armenien über mehrere Verbündete verfügt.
Ein Blick auf diese Partner verdeutlicht die geopolitischen Dynamiken:
Russland ist einer der zentralen Verbündeten Armeniens. Diese Partnerschaft basiert auf strategischen bilateralen Abkommen und der Zusammenarbeit im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Der russische Militärstützpunkt in der zweitgrößten Armeniens, Gjumri unterstreicht Moskaus Einfluss in der Region. Laut Artikel 3 des Vertrags über den Status der russischen Grenztruppen in Armenien von September 1992 „werden die Grenztruppen der Russischen Föderation, die sich auf dem Territorium der Republik Armenien befinden und die Staatsgrenze bewachen, bei ihrer Tätigkeit von der zwischenstaatlichen Grenze geleitet.“ Zudem gelten weiterhin die Verträge der ehemaligen UdSSR mit der Türkei und dem Iran sowie Vereinbarungen zu Grenzfragen der GUS-Mitgliedstaaten. Das bedeutet, dass jeder direkte militärische Druck der Türkei auf Armenien von Moskau als Bedrohung seiner "eigenen Grenzen" bzw. existenziellen Interessen wahrgenommen werden könnte.
Der Iran ist ein weiterer wichtiger Partner Armeniens. Mit einer direkten Grenze und traditionell guten Beziehungen spielt Armenien für Teheran eine Schlüsselrolle, da es dem Iran den Zugang zu nördlichen und westlichen Märkten ermöglicht, ohne dabei auf die Türkei oder Aserbaidschan angewiesen zu sein. Der Iran hat sich zudem wiederholt gegen eine Ausweitung des türkischen Einflusses in der Region ausgesprochen.
Der Westen, einschließlich der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten, zeigt ebenfalls Unterstützung für Armenien. Insbesondere europäische Länder wie Frankreich sympathisieren traditionell mit Armenien, was auf historische und kulturelle Verbindungen zurückzuführen ist. Die USA hingegen verfolgen das Ziel, die Stabilität im Südkaukasus zu sichern, um den Einfluss Russlands, Irans und der Türkei einzudämmen. Allerdings bleibt die Türkei als NATO-Mitglied ein wichtiger Verbündeter des Westens, was ihre Rolle in der Region besonders komplex macht.
Georgien hat sich offiziell neutral positioniert, könnte jedoch als bedingter Verbündeter Armeniens angesehen werden. Das Land ist an regionaler Stabilität interessiert, da Konflikte auch seine eigenen Interessen gefährden könnten.
Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und die OSZE könnten versuchen, diplomatischen Druck auf die Türkei auszuüben, indem sie die territoriale Integrität Armeniens betonen. Allerdings ist die Wirksamkeit solcher Bemühungen fraglich. Dies zeigte sich bereits im Herbst 2020, als türkische Unterstützung die aserbaidschanische Offensive gegen armenische Stellungen in Berg-Karabach ermöglichte und internationale Organisationen weitgehend auf Stellungnahmen beschränkt blieben.
Die armenische Diaspora, vor allem in Frankreich und den USA, stellt ebenfalls einen einflussreichen Faktor dar. Mit erheblichem politischem und finanziellem Gewicht könnte sie dazu beitragen, die internationale Gemeinschaft gegen mögliche türkische Territorialansprüche zu mobilisieren.
Eine türkische Aggression gegen Armenien könnte theoretisch dazu führen, dass Armeniens Verbündete in den Konflikt hineingezogen werden. Darüber hinaus könnten Wirtschaftssanktionen der EU und der USA als Mittel zur Eindämmung Ankaras eingesetzt werden. Sollte die Türkei Gebietsansprüche erheben, könnte sie auf erheblichen diplomatischen und militärischen Widerstand stoßen.
Betrachten wir aber die Realität und analysieren, wer der Türkei tatsächlich widerstehen könnte, sollte sie ihre Aufmerksamkeit auf Armenien richten.
Die Ereignisse in Syrien haben gezeigt, dass die Türkei entschlossen agieren und dabei oft das Völkerrecht missachten kann, während sie geschickt von komplexen geopolitischen Gegebenheiten profitiert. Dennoch unterscheidet sich die Situation Armeniens durch mehrere spezifische Faktoren erheblich vom syrischen Kontext.
Wer könnte "auf eigene Kosten" Armeniens Interessen verteidigen?
Zunächst ist hier Russland zu nennen, der wichtigste Garant für Armeniens Sicherheit. Diese Rolle basiert auf bilateralen Verträgen sowie der Mitgliedschaft Armeniens in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Allerdings hat der Berg-Karabach-Krieg 2020 gezeigt, dass Russland in seinen Handlungen pragmatisch bleibt und direkte Interventionen vermeidet, wenn diese seinen strategischen Interessen widersprechen. Eine offene türkische Aggression gegen Armenien als OVKS-Mitglied könnte jedoch Russland zum Eingreifen zwingen, da das Ignorieren eines solchen Konflikts seinen Ruf als Sicherheitsgarant in der Region massiv schädigen würde.
Der Iran ist ein weiterer potenzieller Unterstützer Armeniens. Diese Unterstützung könnte sich in Form von politischem Rückhalt, wirtschaftlicher Hilfe oder Waffenlieferungen äußern. Da der Iran traditionell gegen eine Stärkung des türkischen Einflusses in der Region ist, könnte er im Falle einer Eskalation zu einem entscheidenden Verbündeten Armeniens werden.
Die Europäische Union, insbesondere Frankreich, nimmt ebenfalls eine stark pro-armenische Haltung ein. Frankreich könnte innerhalb der EU für härtere Maßnahmen gegen die Türkei plädieren, einschließlich Wirtschaftssanktionen und diplomatischen Drucks. Allerdings hat die EU in der Vergangenheit oft zurückhaltend und langsam gehandelt. Dies zeigte sich etwa in den Jahren 2020–2023, als die EU nicht in der Lage war, effektiv auf die Blockade der Verbindungsstraße nach Berg-Karabach zu reagieren – selbst Hilfslieferungen konnten unter diesen Umständen nicht organisiert werden.
Die USA könnten theoretisch Armenien unterstützen, insbesondere im Rahmen ihrer Politik zur Eindämmung des türkischen Einflusses. Dennoch ist von Washington keine direkte militärische Hilfe zu erwarten, etwa durch Waffenlieferungen oder eine aktive Beteiligung am Konflikt. Stattdessen würde die US-Unterstützung sich voraussichtlich auf diplomatischen Druck, begleitet mit bedeutungslosen Sanktionen und der Rhetorik beschränken, um das Verhältnis zu Ankara, einem NATO-Verbündeten, nicht zu gefährden.
Obwohl Armenien über potenzielle Verbündete verfügt, hängt deren Unterstützung von zahlreichen Faktoren ab – darunter das politische Umfeld, strategische Interessen und der Grad der Eskalation des Konflikts. Diese komplexe Dynamik macht die Lage Armeniens in einem möglichen Konfliktszenario sowohl herausfordernd als auch ungewiss.
Mögliche Szenarien für die Entwicklung der Situation.
Sollte die Türkei eine Aggression gegen Armenien starten, wird sie vermutlich versuchen, eine direkte Konfrontation mit Russland zu vermeiden, um einen groß angelegten Konflikt zu verhindern. Dabei könnte Ankara auf seine „syrische Erfahrung“ zurückgreifen und hybride Taktiken anwenden.
Ohne ein aktives Eingreifen Russlands würde Armenien in eine äußerst schwierige Lage geraten, da seine eigenen Ressourcen begrenzt sind. Russland bleibt daher ein zentraler Garant für die Sicherheit Armeniens. Allerdings wird Moskaus Handeln stark von seinem politischen Willen und den strategischen Interessen zu einem bestimmten Zeitpunkt abhängen.
Der wichtigste Verbündete Jerewans
Ein entscheidender Verbündeter Armeniens ist letztlich das Land selbst: seine Regierung und sein Volk. Armenien muss daran arbeiten, seine Verteidigungsfähigkeiten eigenständig zu stärken, anstatt sich ausschließlich auf externe Hilfe zu verlassen. Das Beispiel der syrischen Armee könnte hier eine wichtige Lehre sein: Selbst mit Unterstützung durch die russische Luftwaffe und iranische Bodentruppen konnte Syrien nicht durchgehalten, weil seine eigene Armee keine Widerstandskraft gezeigt hat.
Die zentrale Frage lautet jedoch: Ist die derzeitige Regierung unter Nikol Paschinyan in der Lage, das Land effektiv zu führen, die Gesellschaft zu mobilisieren und eine strategische Zusammenarbeit mit Russland und dem Iran aufzubauen, falls die Türkei zu aggressiven Maßnahmen greift?
Faktoren, die Armeniens Widerstandsfähigkeit beeinflussen
Seit dem Bergkarabach-Krieg 2020 haben sich die Beziehungen zwischen Armenien und Russland deutlich verschlechtert. Armenien wirft Russland mangelnde Unterstützung vor, während Moskau Jerewan beschuldigt, sich dem Westen anzunähern und Bergkarabach offiziell als Teil Aserbaidschans anzuerkennen. Am 6. Oktober 2022 erkannte Jerewan unter Vermittlung der EU und des französischen Präsidenten Berg-Karabach als Teil Aserbaidschans an, was den jahrzehntelangen Konflikt zugunsten Bakus beendete. Diese Entscheidung brachte die russischen Friedenstruppen in der Region in eine politische und rechtliche Zwickmühle.
Paschinyan verfolgt offen eine Annäherung an Europa und die USA, was Moskau insbesondere im Kontext des Ukraine-Konflikts verärgert. Obwohl westliche Länder wie die USA und Frankreich Paschinyan politisch unterstützen, schwächt dies Armeniens Fähigkeit, effektiv auf äußere Bedrohungen zu reagieren, da es wichtige regionale Partner wie Russland entfremdet.
Ein mögliches Szenario
Falls die Türkei eine Aggression gegen Armenien unternimmt, könnten sich die Ereignisse an die Situation in Syrien anlehnen. In einem solchen Szenario könnte Paschinyan, ähnlich wie Assad, Jerewan verlassen, bevor es erobert wird, oder er wäre gezwungen, die Unterstützung Russlands und des Iran zu suchen. Dies würde jedoch erhebliche diplomatische und politische Herausforderungen mit sich bringen, da Armenien sich zunehmend in einer geopolitischen Isolation befindet.
Was Armenien jetzt tun muss:
Erstens, Außenpolitik überprüfen: Armenien muss seine Außenpolitik dringend überdenken und das Bekenntnis zu den alliierten Beziehungen mit Russland sowie zur Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) bekräftigen. Stattdessen ist derzeit jedoch ein Kurs in Richtung Annäherung an den Westen zu beobachten.
Zweitens, persönliche Kontakte zur russischen Führung aufbauen: Nikol Paschinyan muss direkte und konstruktive Beziehungen zur russischen Führung aufbauen und dabei russische feindliche Rhetorik vermeiden. Stattdessen verschlechtern sich die Beziehungen zu Moskau jedoch weiterhin.
Drittens, militärische Zusammenarbeit stärken: Armenien sollte die militärische Zusammenarbeit mit Russland intensivieren, indem es zusätzliche Kapazitäten für russische Militärstützpunkte bereitstellt oder verstärkte Waffenkäufe tätigt. Doch im Gegenteil ziehen sich russische Truppen allmählich aus Armenien zurück.
Viertens, öffentliche Meinung fördern: Es ist entscheidend, die öffentliche Meinung über die Notwendigkeit enger Beziehungen zu Russland zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit zu stärken. Leider dominieren in prowestlichen und im öffentlichen Medien oft russisch feindliche Stimmungen, die teils in Russophobie übergehen.
Realistische Aussichten
Angesichts der angespannten Beziehungen Armeniens zu seinen wichtigsten Verbündeten und der schwachen Führungspolitik der aktuellen Regierung wird es äußerst schwierig, einer möglichen türkischen Aggression wirksam zu widerstehen.
Der Verlust Armeniens als Verbündeten im Südkaukasus wäre für Russland und den Iran ein schwerer geopolitischer Schlag, weshalb beide Länder wahrscheinlich kooperieren werden, auch wenn das Vertrauen in Paschinyan begrenzt ist.
Um jedoch die nationalen Interessen erfolgreich zu schützen, muss das armenische Volk die Notwendigkeit einer Veränderung erkennen. Die neue Regierung muss ein Gleichgewicht zwischen dem Westen und Russland finden, wobei der Wiederaufbau strategischer Beziehungen zu Moskau höchste Priorität haben sollte. Dies erfordert Flexibilität und strategisches Denken angesichts der gegenwärtigen geopolitischen Spannungen.
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