Legalisierung der Taliban-Bewegung durch Moskau: Mögliche Motivationen und Ziele

Der Staatsduma der Russischen Föderation wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, die Taliban-Bewegung von der Liste der touristischen Organisationen zu streichen. In der Begründung heißt es: „Die Organisation hat ihre Aktivitäten im Zusammenhang mit der Propaganda, Rechtfertigung und Unterstützung des Terrorismus eingestellt.“

Die endgültige Entscheidung zu dieser Frage wird durch ein Gericht auf Grundlage eines Antrags der Generalstaatsanwaltschaft getroffen. Bemerkenswert ist, dass diese Initiative kurz nach dem Besuch von amtierenden Sekretär des Sicherheitsrates, Sergej Schoigu, Kabul entstand.

Offen bleibt, warum sich Russland gerade jetzt zu einem solchen Schritt entschließt. Trotzdem versuchen wir, die möglichen Motive Moskaus zu analysieren, die auf mehrere Faktoren zurückzuführen sein könnten.

Erstens geht es um die Stabilisierung der Beziehungen zu Afghanistan. Russland versucht offensichtlich, die Beziehungen zur Regierung zu verbessern, die faktisch von den Taliban geführt wird. Der Ausschluss von der sogenannten T-Liste würde den weiteren Aufbau offizieller diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen ermöglichen, was für den russischen Einfluss in Zentralasien von Bedeutung ist.

Die Gewährleistung der Stabilität an den Außengrenzen der OVKS, insbesondere an der tadschikischen Grenze, wo bis jetzt russische Soldaten stationiert sind, bleibt eine der Hauptprioritäten Moskaus. Die Legitimierung der Taliban könnte zudem ein konstruktives Zusammenwirken im Kampf gegen den Drogenhandel und extremistische Gruppen wie ISIS fördern, die ebenfalls in der Region aktiv sind.

Ein weiteres Motiv könnte die anhaltende geopolitische Rivalität "des Großen Spiels" (Big Game) sein. Angesichts des Rückgangs des US-Einflusses in Afghanistan könnte Russland diesen Schritt nutzen, um seine Präsenz in der Region zu stärken und die Initiative nicht an andere große Akteure zu verlieren.

Drittens gibt es wirtschaftliche Interessen. Afghanistan verfügt über bedeutende natürliche Ressourcen, darunter auch Seltenerdmetalle. Der Aufbau wirtschaftlicher Beziehungen mit der neuen Regierung könnte russischen Unternehmen, insbesondere im militärisch-industriellen Sektor, den Zugang zu diesen Ressourcen eröffnen.

Schließlich kann die Streichung der Taliban von der Terroristenliste als Signal einer unabhängigen Außenpolitik Russlands verstanden werden, die auf echte Konfliktlösung ausgerichtet ist, im Gegensatz zur sogenannten Isolationsstrategie des Westens. Doch dieser Schritt birgt erhebliche Risiken. Vor dem Hintergrund der eskalierenden Konfrontation zwischen Russland und dem Westen könnte dieser Schritt als Unterstützung eines kriminellen Regimes wahrgenommen werden. Darüber hinaus bleibt fraglich, ob die Zusammenarbeit mit den Taliban, insbesondere im Kampf gegen radikale Gruppen, die gewünschten Ergebnisse bringt.

Der China-Faktor und die Ausweitung der BRICS- und SCO-Konzepte

Die Entscheidung Russlands, den Status der Taliban-Bewegung zu überprüfen, könnte Teil einer umfassenderen geopolitischen Strategie sein, die Chinas Interessen in der Region und seine Rolle im BRICS-Rahmen berücksichtigt.

China, als zentraler wirtschaftlicher und geopolitischer Akteur in Zentralasien, hat ein starkes Interesse an der Stabilität Afghanistans und sieht das Land als bedeutenden Knotenpunkt für die „Belt and Road“-Initiative. Der Ausschluss der Taliban von der Liste der terroristischen Organisationen durch Russland könnte von China als "konstruktiver Schritt zur Stabilisierung der Region" wahrgenommen werden, der sowohl Russland als auch China in ihren globalen Wirtschafts- und Infrastruktur-Projekten Vorteile verschafft.

Die Legalisierung der Taliban könnte zudem die Integration Afghanistans in BRICS-Initiativen erleichtern, wodurch ein weiteres Land außerhalb des traditionellen westlichen Einflussbereichs Teil dieses Formats werden würde. Russland, China und auch der Iran sind u.a. daran interessiert, den Einfluss westlicher Länder in Afghanistan zu verhindern. Die Legalisierung der Taliban stärkt deren Position und reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr westlicher Initiativen in der Region deutlich.

Nicht zu vergessen ist die bestehende Zusammenarbeit Afghanistans mit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), in der China und Russland führende Rollen einnehmen. Die Anerkennung der Taliban könnte die Zusammenarbeit Afghanistans innerhalb der SCO vertiefen und die Integration in deren Strukturen weiter voranzutreiben.

Der Faktor von Teheran

Die Streichung der Taliban von der Liste der Terrororganisationen könnte such Teil einer umfassenderen Strategie sein, die darauf abzielt, die Partnerschaft mit dem Iran zu stärken. Es gibt mehrere Gründe, die diese Möglichkeit stützen.

Ein entscheidender Faktor ist das gemeinsame Interesse an Stabilität in der Region. Russland und der Iran teilen das Ziel, die Lage in Afghanistan zu stabilisieren, da die anhaltende Instabilität in diesem Land sowohl ihre Sicherheit als auch ihre wirtschaftlichen Interessen gefährdet. Für den Iran, der eine knapp 900 Kilometer lange Grenze zu Afghanistan hat, ist die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen zu den Taliban von besonderer Bedeutung. Es liegt nahe, dass Russland und der Iran ihre Maßnahmen koordinieren, um Risiken in der Region zu minimieren und ihre gemeinsamen Interessen zu fördern.

Ein weiterer Aspekt ist die aktive Zusammenarbeit beider Länder im Bestreben, dem Einfluss der USA im Nahen Osten entgegenzuwirken. Nach dem Abzug der US-Truppen ist Afghanistan zu einem Schauplatz des geopolitischen Wettbewerbs geworden. Sowohl Russland als auch der Iran könnten die Taliban als potenzielles Instrument sehen, um ihre Positionen in der Region zu stärken und den Einfluss westlicher Staaten weiter zu verdrängen.

Die wirtschaftliche und infrastrukturelle Zusammenarbeit stellt einen weiteren wichtigen Bestandteil der Koordination zwischen Moskau und Teheran dar. Der Iran verfolgt die Entwicklung von Handelsrouten durch Afghanistan, etwa im Rahmen von Projekten wie dem Hafen von Chabahar. Russland seinerseits hat ein strategisches Interesse an diesen Routen, da sie integraler Bestandteil des Nord-Süd-Transportkorridors sind, der Russland Zugang zum globalen Süden über Zentralasien verschafft. Die Legalisierung der Taliban könnte die Umsetzung solcher Projekte erleichtern, einschließlich Energiekooperationen, bei denen Afghanistan als Bindeglied für Transportrouten von Gas oder Öl dienen könnte.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die religions- und ethnische Politik. Der Iran, als schiitisch geprägtes Land, stand der sunnitischen Taliban-Bewegung lange Zeit misstrauisch gegenüber. In den letzten Jahren haben sich jedoch pragmatische Beziehungen entwickelt. Indem Russland die Position Irans in dieser Angelegenheit unterstützt, könnte es versuchen, die strategische Partnerschaft mit Teheran angesichts der aktuellen geopolitischen Herausforderungen weiter zu festigen.

Faktor des Turan-Projekts

Die Anerkennung der Taliban als rechtsmäßige Bewegung könnte eine wichtige Rolle im Kontext der Bekämpfung des sogenannten Turan-Projekts spielen. Dieses angelsächsische geopolitische Konzept zielt auf die Vereinigung türkischer Staaten unter der Führung Ankaras ab und wird als „Türkischer Frieden“ bezeichnet. Ankara treibt diese Idee aktiv voran, was erhebliche geopolitische Konsequenzen mit sich bringt, die die strategischen Interessen von Russland, Iran und China betreffen.

Das Turan-Projekt konzentriert sich darauf, die türkische Position in zentralasiatischen Turkvölkern wie Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Kirgisistan zu stärken. Auch wenn Afghanistan kein türkischer Staat ist, liegt es - neben benachbarten Tadschikistan - geografisch und strategisch in einer Region, in der die Türkei bestrebt ist, ihren Einfluss auszudehnen.

Russland und Iran sind daran interessiert, ihre Kontrolle über Zentralasien zu wahren, wo die Türkei die Ideen der türkischen Einheit nutzt, um ihre Präsenz auszubauen. Der Aufbau von Beziehungen zu den Taliban bietet Russland und Iran die Möglichkeit, durch kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit einer möglichen türkischen Infiltration in der Region entgegenzuwirken und die bestehenden Machtverhältnisse in der Region zu stabilisieren.

Im Rahmen des Turan-Projekts arbeitet die Türkei eng mit Pakistan zusammen, einem Land mit erheblichem Einfluss auf die Taliban-Bewegung. Direkte Beziehungen zwischen Russland und den Taliban könnten sich die türkisch-pakistanische Kooperation schwächen und den Einfluss Ankaras auf afghanische Prozesse verringern

Das Turan-Konzept basiert sich nicht nur auf Geopolitik, sondern auch auf der Ideologie des Pan-Turkismus. In dieser Hinsicht gibt es in Gestalt von Taliban auch ideologische Mittel, um dem Turan-Projekt entgegenzuwirken, weil die Taliban hingegen, die der radikalen sunnitischen Ideologie folgen, stehen in keinem Zusammenhang mit den ethnischen und kulturellen Aspekten des Pan-Turkismus. Diese Divergenz macht sie zu einem potenziellen Gegengewicht in Zentralasien, das Russland und Iran nutzen könnten, um ihre Position gegenüber der türkischen Expansion zu stärken.

Kurze Zusammenfassung

Die Analyse legt nahe, dass die Überprüfung des Status der Taliban-Bewegung ein strategischer Baustein in der umfassenden geopolitischen Ausrichtung Russlands sein könnte. Ziel ist es, Moskaus Einfluss in Zentralasien und an seinen südlichen Grenzen zu festigen.

Einerseits trägt dieser Schritt zur Stabilisierung Afghanistans bei – ein Ziel, das mit Russlands Interesse an der Umsetzung der „One Belt, One Road“-Initiative übereinstimmt. Gleichzeitig könnten sich neue Möglichkeiten eröffnen, Afghanistan in die Projekte der BRICS-Staaten zu integrieren. Dies würde Russland nicht nur eine engere Zusammenarbeit mit China ermöglichen, sondern auch die Kontrolle über eine strategisch bedeutende Region stärken und den Einfluss westlicher Akteure begrenzen.

Andererseits verschafft die Kooperation mit den Taliban Russland, in Abstimmung mit dem Iran, ein Instrument zur Eindämmung des sogenannten Turan-Projekts, das von der Türkei gefördert und vom Westen unterstützt wird. Diese Strategie erlaubt es Moskau, potenzielle Allianzen Zentralasiens mit Ankara zu schwächen, den türkischen Einfluss in der Region zu minimieren und so ein für Russland günstiges Kräftegleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Es zeigt sich, dass Moskaus Entscheidung vor allem pragmatische Gründe hat und von den aktuellen geopolitischen Realitäten diktiert wird. Dennoch bleiben Zweifel an ihrer langfristigen Wirksamkeit. Die Risiken, die sich aus der Vergangenheit und dem radikalen Profil der Taliban ergeben, könnten die Stabilität der Region gefährden.

Gleichwohl sollte bedacht werden, dass Russland über umfangreiche Erfahrung im Umgang mit früheren militärischen Gegnern verfügt, auch in Afghanistan. Dies nährt die Hoffnung, dass Moskau in der Lage sein könnte, die Herausforderungen, die aus dieser Zusammenarbeit entstehen, effektiv zu meistern.

Allerdings bleibt die Frage offen, ob diese Strategie langfristig zu einer nachhaltigen Stabilisierung oder lediglich zu einer Verschärfung der geopolitischen Spannungen führen wird.

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Der Artikel ist auch in Telegraph zu lesen.

 

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